Die Menschen
Immer sind es die Menschen
Du weißt es
Ihr Herz
Ist ein kleiner Stern
Der die Erde
Beleuchtet“
Rose Ausländer
Herzensbegegnungen sind Sternenbegegnungen. Sie sind gestrickt aus Licht und Schatten, Polaritäten, Gegensätzlichkeiten und Paradoxen. Sie ermöglichen sowohl Trennung als auch Verbindung, gestalten diese wie einen Webteppich der Verwandlungen, in welchem die Vergangenheit Grundlage des Heute ist und einen Kern des Zukünftigen (wie einen Stern) in sich trägt. Dieser Herzensstern ist nur wenig in alltäglichen Emotionen zu erleben, auch im sonst oft ausdrucksgewichtigen Willen ist er ausschließlich im Hintergrund.
Der Stern – das Wesentliche – ist vor allem PRÄSENZ.
In der Präsenz sind meinem Erleben nach Möglichkeiten zu Kontakt gegeben, selbst wenn physiologische grundständige Eigenschaften dazu nicht mehr vorhanden sind.
Dabei ist weniger bedeutend, wer welche Rolle einnimmt, welches Alter, Wissenstand und Fähigkeiten vorhanden sind.
Herzensbegegnungen sind eine Form der zwischensinnlichen, bewussten „Inter-“ Vernetzung, in welcher ICH präsent BIN.
Dabei ist die Präsenz als solche nicht fassbar, beschreibbar oder festzuhalten – vielmehr ist sie ein Moment, in welchem Wirklichkeit fluide und wechselwirkend in Verwandlung ist.
Im Rahmen einer kleinen Bildergeschichte möchte ich aus meinem Alltag in der Betreuungsarbeit mit Seniorinnen/Senioren diese Aussagen zu Herzensbegegnungsformen veranschaulichen:

Für Pflegekräfte liegt die Aufgabe vor allem in der Sorge der Erfüllung der Grundbedürfnisse und der dabei entsprechend benötigten Hilfeleistungen. Es zeigt sich, dass alle Menschen aufgrund ihrer physiologischen Verkörperung ähnliche Grundbedürfnisse haben.
Dabei sind zwei Arten zu unterscheiden:
1. Bewegungstyp: die Grundbedürfnisse werden durch Veränderung erfüllt – z.B. durch Fortbewegung/Veränderungen
2. Gleichbleibtyp: der Gleichbleibtyp erfüllt Grundbedürfnisse durch gleichbleibende Dinge
Beide Formen der Grundbedürfniserfüllung sind in jedem Menschen. Sie erscheinen ständig in verschiedenen Anteilen und Gewichtungen.
Die Alltagsbetreuung/soziale Betreuung hat darin ganz gezielt die Aufgabe die erweiterte Ebene des Menschseins miteinzubeziehen.
Im Denken sind Wertungen und Bewertungen individuell verschieden und vom jeweiligen Zeitgeist, Lebensumfeld und vielem anderen geprägt. Es zeigt sich in der verschieden Art und Weise, Dinge zu betrachten.
Ein Beispiel: manche Menschen legen Wert darauf, eine Zeitung beim Kaffeetrinken zu lesen. Für andere ist es wiederum absolut notwendig, immer wieder einen Zeitraum der Stille und des Alleinseins zu haben.
In der Bewertung zeigen sich Verschiedenheiten. Das Zeitunglesen während dem Kaffeetrinken in Anwesenheit Anderer könnte vom Einen als Zeichen der Unhöflichkeit gewertet werden, vom Anderen als Weltinteresse gedeutet werden.
Der Rückzug in die Stille wird vom Einen als „Eigenbrödlertum“ bewertet, vom Anderen als gute Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse angenommen.
Verbindend zwischen den ähnlichen Grundbedürfnissen und den verschiedenen Denkmustern ist das Herz – sowohl innerlich als vermittelndes und ausgleichschaffendes Organ als auch zwischenmenschlich, sozusagen als eine Präsenzkraft. Das Herz ermöglicht, Bewertungen mit der eigenen Intuition zu verknüpfen und daraus zu handeln.

Damit ergibt sich in der Arbeit mit Menschen die Aufgabe, in sich selbst PRÄSENT zu sein und diese auch in den Tätigkeiten am, um und mit Menschen zu verwirklichen. Denn die verringerte eigene Präsenz (z.B.durch gedankliche Ablenkung) bewirkt, dass eine geringere Vernetzung mit der Präsenz des Anderen geschieht.
Die eigene Präsenz bedeutet hierbei, dass das Herz fähig ist zwischen dem Denken/Verstand und den körperlichen Grundbedürfnissen zu vermitteln und sie bedeutet, dass wir selbst in der Tätigkeit empathisch wahrnehmen, wenn wir selbst unerfüllte Grundbedürfnisse in uns tragen. Es bedeutet, diese Bedürfnisse adäquat einordnen zu können und angemessene Schritte einzuleiten um sie zu erfüllen.
Das Herz kann sich sicher fühlen, wenn es einerseits diese Vermittlungsfunktion ausüben kann und andererseits wahrgenommen wird – vom ICH eines Gegenübers und von seiner Umgebung – eingebettet in einem „Netzwerk der Sterne“.
Wenn wir uns sicher fühlen und in einer gesunden Spannung sind, öffnet sich das Herz für Begegnungen und der in uns befindliche Stern kann leuchten. Die Begegnungsschwingung kann dann in mir und zwischen uns fließen.

Herzensverbindung herstellen:
Bedingt durch physische und psychische Krankheiten (Demenz, Depression u.v.m.), altersbedingte Multimorbidität (Apoplex, Schädel-Hirn-Trauma, Wachkoma u.a.), aus dem Unterbewusstsein auftauchende frühere Traumata (Kindheitserlebnisse) und in aktuellen Belastungs- oder Stresssituationen ist es jedoch möglich, dass die Herztätigkeit seine innere Verbindungsfunktion nicht richtig erfüllen kann.
Möglicherweise sind z.B.durch die degenerativen Prozesse im Gehirn bei einer Demenz die sonst vom Denken übernommenen Ordnungsstrukturen zerbrochen, Bedürfnisse bleiben (z.B.aufgrund einer Nervenschädigung) unerkannt. Das Herz fühlt, dass etwas nicht passt – es kann sich jedoch ohne Einordnung nicht adäquat äußern und wird als Folge nicht verstanden. So verschließt es sich immer mehr.
Die Aufgabe eines empathischen, gesunden Menschen besteht darin, den Menschen mit dem Herzen über die gegebenen Sinne wahrzunehmen und ihn in seinem Zustand zu erkennen und anzunehmen.

Kontakte leben:
Unter anderem durch diese Einschränkungen entsteht in Institutionen, in denen die Menschen aufgrund ihrer Einschränkungen und aufgrund eines fehlenden/überlasteten Familiennetzwerkes oder fehlenden sozialen Netzwerkes versorgt werden (müssen), sehr schnell eine schwer zu beschreibende Kontaktschwierigkeit.
Die verschiedenen Gedankenmuster und Prägungen finden nicht zusammen, es entstehen Missverständnisse.
Jeder ist mit seinem Sein allein, die Herzen sind aufgrund der eigenen Problematiken (welche nicht selbst gelöst werden können) verschlossen. Die Grundbedürfnisse bleiben teilweise unerkannt.
Im obigen Bild sind diese Ebenen von fünf Menschen beschrieben. Dabei sind alle Menschen in sich zurückgezogen. Und die einzige Person, die mit einem Auge versucht Kontakt aufzunehmen, wird von den Anderen nicht wahrgenommen oder zurück gewiesen.

Die Frage ist: wie können wir als Betreuungskräfte in dieser Situation die Herzen aufschließen?
Es gibt dazu keine Antwort. Oftmals fällt es etwas leichter, wenn Bekanntes das systemisch innerlich und äußerlich vertraut ist gegenseitiges Vertrauen weckt und nährt. Dazu gehören Alltagsgegenstände aus früherer Zeit, die Umgebung der Natur, bekannte Melodien, Lieder, Geschichten, Reime, Bewegungsabläufe u.v.a.

Die Themenbereiche sind in Bezug zum Kunsttherapeutischen Ansatz nach Cathy Malchiodi (Malchiodi, 2020) in den verschiedensten Kulturen offensichtlich ähnlich, wenngleich sie durch die verschiedenen Gedankenformen, Werte, Prägungen und Ordnungsstrukturen auf extrem unterschiedliche Weise gelebt werden. Sie sind als Anlage in uns, da sie über die verschiedensten Traditionen lange gewirkt haben. Wir erreichen sie über: Wort, Musik, Kunst und Körper. Sie stellen also zu differenzierende Ebenen dar, die wir jedoch alle in uns Tragen.
Dabei zeigt sich, dass verschiedenste Menschen sich auf verschiedenen Ebenen öffnen:
Person A: das Herz gibt zuerst den Mund frei, um Verbindung zu finden
Person B: das Herz muss zuerst was TUN um sich wohl zu fühlen
Person C: Das Herz muss zuerst was Bekanntes hören um zu vertrauen
Person D: Das Herz muss sich fühlen und gesehen werden um sich zuzuwenden

Über das Sprechen von Reimen, Gedichten und vielen anderen Themen kann Kontakt geschehen und ggf.eine Verbindung zu früher hergestellt werden.

Auf der Ebene des Körpers kann zuerst der eigene Raum, dann der Raum in Beziehung gespürt werden. Auf diese Weise kann bewusst eine Verbindung zu sich selbst und anderen hergestellt werden. Kleine rhythmische Spiele oder Interventionen verbinden Kopf, Herz und Hand. Es zeigt sich, wie wunderbar sich der Körper erinnert, wenn wieder einmal die Schritte des Walzers getanzt werden…

Die Auseinandersetzung mit Kunst bedeutet nicht ausschließlich die Beschäftigung mit klassisch künstlerischen Tätigkeiten. Auch das Backen von Brot, Hefezopf und Kuchen kann im Prozess eine der Kunst nahe stehende Erfahrung sein, Erfahrungen können ausgetauscht werden und auf diese Weise kann zusammengearbeitet werden. Dabei wird eine Verbindung verschiedener Sinne und Fähigkeiten ganz von alleine möglich.

Die Musik, alte Melodien und Klänge öffnen und berühren. Während die Liedtitel oder Musikernamen oft schon vergessen sind, können die Melodien, Liedtexte oder anderes z.B. beim Singen miteinander plötzlich wieder auftauchen. Auf diese Weise kann das eigene Dasein im Moment GANZ erlebt und wahrgenommen werden.
Kontaktlosigkeit und Berührungslosigkeit sind als eine Folge eines andauernden Kreislauf des Rückzugs aus dem Erleben der eigenen zunehmenden physiologischen Eingeschränktheit möglich und bilden die Aufgabe, eine neue Form des Kontaktes und des Lebens zu entwickeln, die andere Maßstäbe ansetzt als bisher.
Es ist dann weniger bedeutend, dass der Kuchen gelingt, die Farbe tatsächlich auf dem Papier landet oder das Lied richtig gesungen wird. Viel wichtiger ist, dass wir alle in der gemeinsamen Verbindung sind, uns gegenseitig vertrauen und unserem Herzen folgen.
„Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“
Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupery
Malchiodi, C. A. (2020). Trauma and Expressive Arts Therapy: Brain, Body, and Imagination in the Healing Process. Guilford Publications.